Alfred Josef Ellinger

Nachwort zum "Bilderbuch vom Hernalser Kalvarienberg" von Maria Hornung - (Auszug)

Literaturkritik und Literaturwissenschaft sind sich darüber einig, dass sich ein mehr oder weniger geheimnisvoller Bogen von der Barockdichtung zur Dichtung unserer Zeit spannt. Manchmal sind verwandte Elemente deutlich nachweisbar, manchmal nur zu erspüren. Auch bei Ellinger scheint dies der Fall zu sein.

Er hat den spätbarocken Holzreliefzyklus der Hernalser Kalvarienbergkirche zum Gegenstand dessen gemacht, was er Bänkellieder nennt. Er wählt damit eine Gestaltungsform, die gewissermaßen das Gegenteil der hohen Kunstausübung ist. Das Bänkellied, von einem Volkssänger auf dem Markt von einer improvisierten Bühne aus - meist bloß von einer Bank, auf die er sich hinaufstellt - vorgetragen, ist im Volkston abgefasst und erläutert in derb-humorvoller, aber oft auch recht kritischer Weise Zeitgeschehen oder überlieferte Stoffe. Gewöhnlich hatte der Bänkelsänger ein Großes Bild bei sich, das er im Lied kommentierte. Die Wiener Blütezeit des Bänkelliedes ist ... in der Barockzeit anzusetzen. Auch Ellinger deutet Bildwerke im Volkston und nicht ohne eine Moral herauszuarbeiten - wie der alte Bänkelsänger. Was Ellinger jedoch gestaltet, ist nicht Imitation der barocken Volksdichtung des Bänkelliedes, sondern absolut moderne Dichtung an einem zeitlosen Stoff.

Den Leidensweg Jesu in Bänkelliedern darzustellen, mutet aufs erste mehr als überraschend an und läßt den Gedanken an die "barocke Regel des Gegensatzes" ... anklingen. ... Was der Dichter ... aus den Schnitzwerken herausholt und erläutert, ist nicht unmittelbar die Gestalt des Herrn, sondern die Sünden der Welt, für die Er büßt und von denen Er erlöst. Die Tiersymbole als Inkarnation der Sünde - der geile Ziegenbock etwa, der geizige Rabe oder der zornige Löwe - geben dem Dichter so recht Gelegenheit loszulegen. Loszulegen gegen die Sünde unserer Zeit, jeder Zeit, ob nun von Komplexen  und "Genierer" frei auf der Sexwelle Dahinsegelnde unter die Lupe genommen wird oder der Träger des Dienstkappels, der hinter diesem seinen ungerechtfertigten Zorn versteckt. Die Interpretation der Tugenden geht über das sonst Übliche weit hinaus. So wird die Tugend der Mäßigkeit am furchtbaren Erlebnis der Kriegsgefangenschaft gemessen, die Tugend des Eifers hingegen sehr originell am "Körberljuden".

Formal hält sich der Dichter an den gereimten Zweizeiler ... wie er dem Volkston altvertraut ist. Die Sprache - der Dialekt des Wieners unserer Zeit ... Die Schreibung - ohne große Anfangsbuchstaben der Hauptwörter, phonetisch ... - nimmt nicht Rücksicht auf leichte Lesbarkeit. ... weniger um zu "verfremden" ..., sondern eher, um mit all den vielen lahmen Kompromissen zwischen hochsprchlicher Verschriftung und mundartlicher Schreibung aufzuräumen.

Das Transkriptions-System ist seit H.C.Artmanns "med ana schwoazzn dintn" (1958) geläufig und wird, mit verschiedenen Abwandlungen, von zahlreichen Dialektdichtern ... gebraucht. Ellingers Schreibweise ist allerdings folgerichtiger: der ai-Laut (baindarl "Beinderl, kleines Bein") wird mit ai geschrieben. Neu sind die -bb-, -dd-, -gg- für Halbfortes ... wie in gschodd (geschadet), redd (redet), wegg (weg) ... Der Kampf um die Transkription der Vokallängen ist bei allen Wiener Dialektdichtern ... zu beobachten. Artmann gebraucht Doppelvokale gewöhnlich für auslautende Länge, wie in gschdöö (Gestell), nii (nie), schmeeone (ohne Schmäh); vor folgendem linden Konsonant wird die Länge durch diesen angezeigt: weda (Wetter), während folgender Starklaut die Kürze bezeichnet: bassad (passte). Ellinger verfährt ebenfalls nach dieser Regel, verfeinert sie aber dort, wo konsonantischer Stark- und Lindlaut sich mit den herkömmlichen Schriftmitteln nicht unterscheidenlassen (ch, sch): beech (Pech); eine Genauigkeit, die sich bei keinem der anderen Wiener Dialektdichter findet.